Die Stadt Halle verfügt mit dem Stadtgottesacker über einen Begräbnisplatz, der wie kein anderer Ort die städtische Geschichte widerspiegelt und in der Geschlossenheit seiner Anlage absolut einzigartig im europäischen Raum nördlich der Alpen dasteht.
Auf dem Terrain des nördlich der Stadtmauern gelegenen Martinsberges waren schon im 14. und 15. Jahrhundert rund um die dortige Kapelle die zahlreichen Toten der verschiedenen Pestepidemien bestattet worden. Kardinal Albrecht von Brandenburg, Erzbischof in Magdeburg und Mainz, erhob Halle zu seiner Residenz und initiierte dort großartige Bauvorhaben, darunter auch die Anlage des Gottesackers, nachdem der Rat die innerstädtischen Kirchhöfe als Friedhöfe geschlossen hatte. Die feierliche Weihe des Geländes fand am 8. August 1529 statt. In den Jahren 1557 bis 1590 wurde dann die imposante Arkadenreihe der überwölbten Grüfte errichtet, die den Innenraum in einem schiefen Viereck nach außen abschließt. Baumeister war Nickel Hoffmann (um 1515 – 1592), der seine eigenen, an den Emporen der hallischen Marktkirche erprobten Entwürfe in den Schwibbögen des Gottesackers wieder aufnahm und zur Vollendung brachte.
Nickel Hoffmann, dessen Porträtrelief sich innen am Torturm des Friedhofes findet (s. Abb.), und sein Hauptgehilfe Thomas Rinckler (um 1520-1571), Steinmetz aus München, verfertigten die ersten Grabbögen selbst, ehe ihre Arbeit offenbar durch von ihnen geschulte Werkleute fortgesetzt und beendet wurde. Die Gruftbögen wurden von Halles angesehensten Geschlechtern in Auftrag gegeben bzw. bei deren Aussterben von anderen Bürgerfamilien erworben.
Die beiden ab 1557 zuerst erbauten Bögen wurden für Familien errichtet, die in der Geschichte der Reformation eine Rolle spielen: die v. Hoym (Nr. 11) und v. Selmenitz (Nr. 12). Die 1570 in Bogen 11 begrabene Katharina Kroll, Witwe eines Leipziger Patriziers und Großmutter der Erbauer, ist die Urahnin von vier europäischen Königshäusern. Unter der Vielzahl von Grabbögen bedeutender Persönlichkeiten sind z. B. die des Juristen Christian Thomasius (Nr. 10), der Patrizierfamilie von Schönitz (13), des bedeutenden Pädagogen Paul Praetorius (22), des berühmten Mediziners Friedrich Hoffmann (47), des Historikers Joh. Christoph v. Dreyhaupt (58), der Eltern des großen Komponisten Georg Friedrich Händel (60), des Weltumseglers Johann Reinhold Forster (61), der sagenumwobenen „Frau zum Grünen Hof“ Margaretha Schöpperitz (69), der Theologen- und Chronistensippe Olearius (74) oder der Geschlechtsbogen Nr. 80/81 August Hermann Franckes, des Begründers der nach ihm benannten Stiftungen, sowie vieler anderer. Und auch auf dem weiträumigen Innenfeld findet der interessierte Besucher manches Grab über Halle hinaus bekannt gewordener Frauen und Männer und Anregungen zur Beschäftigung mit der Stadtgeschichte.
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Die Baugeschichte des Gottesackers endet nicht mit der Errichtung der Schwibbögen. Neben Veränderungen in der Nutzung einzelner Bögen wird bereits im 17. und 18. Jahrhundert über Verwahrlosungserscheinungen bis hin zur Gefahr des Einsturzes berichtet. Die für die Grüfte gültigen Bestattungsregeln wurden im 19. Jahrhundert gewachsenen hygienischen Ansprüchen angepasst, ebenso eine Kapelle für Trauerfeiern eingerichtet.
Bombenangriffe im Frühjahr 1945 zerstörten große Teile der Anlage, nämlich 26 Bögen insbesondere an der Nordwestseite (s. Abb.) und der Südostecke. Die Stadtverwaltung war in DDR-Zeiten nicht in der Lage, den Wiederaufbau entscheidend zu fördern, und trotz des Einsatzes vieler Helfer kam es zu weiteren Einstürzen von Schwibbögen.
Erst mit der Wende gewannen die Bemühungen um den Erhalt der Anlage eine bessere Grundlage. Unter maßgeblicher Beteiligung der 1990 gegründeten Bauhütte Stadtgottesacker ging man an die Sicherung der Bausubstanz und in Zusammenarbeit mit Bildhauern und der Hochschule für Kunst und Design Burg Giebichenstein an die Rekonstruktion bzw. Neugestaltung zerstörter Schwibbögen.
Durch die 1997 erfolgte großzügige Stiftung von Frau Dr. Marianne Witte wurden weitere Erhaltungsmaßnahmen möglich, die schließlich dazu führten, dass im Sommer 2007 zum 450. Jahrestag des Baubeginns der Schwibbögen deren Folge erstmals wieder geschlossen präsentiert werden konnte. Seither wird weiter versucht, den zerstörten und wieder aufgebauten Bögen durch künstlerische Gestaltung der Reliefs ein neues unverwechselbares Aussehen zu geben und darüber hinaus durch Wappentafeln und aussagekräftige Inschriften Informationen zur Belegungsgeschichte zu geben.
Literatur zum Stadtgottesacker (Auswahl):
Johann Gottfried Olearius: Coemiterium Saxo-Hallense ..., Wittenberg 1674.
Erich Neuß: Der hallische Stadtgottesacker als Quelle familiengeschichtlicher Forschung, in: Ekkehard, Mitteilungsblatt deutscher Genealogischer Abende, Halle 1929 bis 1934.
Carl Gottlieb Dähne: Neue Beschreibung des Halleschen Gottesackers ..., Halle 1830.
Anja A. Tietz: Der Stadtgottesacker in Halle (Saale), Halle 2004.
Bernd Hofestädt: Bisher wenig beachtete Quellen zur Bau- und Belegungsgeschichte der Schwibbögen auf dem Stadtgottesacker in Halle, Eine Übersicht mit ausgewählten Fallbeispielen, in: „Ekkehard“, Familien- und regionalgeschichtliche Forschungen (Neue Folge 16 (2009), Heft 4.
Halle, 8.5.2010
Bernd Hofestädt
Links: Grundriss des Stadtgottesackers, bearbeitet von Bernd Hofestädt, aktualisiert im September 2014. Dieser Grundriss zeigt den neuesten Stand der Forschung Bernd Hofestädts, die Bogenbesitzer betreffend. Rot markiert sind stadtgeschichtlich relevante Persönlichkeiten.
Mit freundlicher Genehmigung von Architektur und Denkmalpflege, Dr. Stelzer und Zaglmaier; Därr Landschaftsarchitekten; Verein für Friedhofskultur in Halle und dem Umland e.V.
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